Schwangerschaftsabbruch als letzte Option

Der Abbruch gehört zu den traurigen Kapiteln der Hyperemesis gravidarum. Immer wieder wenden sich Frauen an das www.hyperemesis.de-Forum oder direkt an mich, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben, weil sie den Zustand der Hyperemesis gravidarum nicht mehr ausgehalten haben – und oft genug leider auch keine ausreichende Unterstützung erhalten haben. Ich kenne inzwischen zahlreiche Geschichten, in denen der für die Schwangeren unerträgliche Zustand der Hyperemesis zur Abreibung geführt hat. Zum Teil waren es Wunschkinder, manche dank künstlicher Befruchtung gezeugt. Oft gab es keine weiteren Gründe für einen Abbruch – „nur“ die Hyperemesis gravidarum. Ich weiß um Schwangerschaftsabbrüche von Frauen, die im christlichen Glauben verwurzelt sind und die sich unter anderen Umständen niemals hätten vorstellen können, dass sie selber eines Tages eine Schwangerschaft abbrechen würden.

Abbruch als existenzielle Entscheidung

Wenn man bedenkt, dass Frauen früher (vor den Möglichkeiten der Infusionstherapie) an einer schweren Hyperemesis gravidarum verstorben sind und Mediziner darüber diskutierten, wann der richtige Zeitpunkt für einen therapeutischen Abbruch sei, um noch eine Chance zu haben, das Leben der Mutter zu retten, so mag es nicht wundern, wenn Frauen mit schweren Hyperemesis-Beschwerden genau diesen existentiellen Charakter der Krankheit verspüren. Das Gefühl zu sterben ist nicht Ausdruck einer Hysterie. Unbehandelt ist die schwere Hyperemesis gravidarum eine lebensbedrohliche Erkrankung. Das wird häufig von den Betroffenen auch so wahrgenommen. Wenn vor diesem Hintergrund die Entscheidung für das eigene Leben fällt, so ist das keine „egoistische“, sondern eine ganz existenzielle Entscheidung.

Abbruch im Unwissen von Therapiemöglichkeiten

Das Tragische an dieser Entscheidung ist, dass wir heute im 21. Jahrhundert eben Möglichkeiten der Behandlung haben. Es bleiben immer noch Fälle, in denen alle Behandlungsversuche scheitern und auch ärztlicherseits aus Sorge um das Leben der Mutter ein Abbruch erwogen wird. Solche Fälle sind mir bekannt, doch sie bleiben die Ausnahme. Zumeist aber erfolgt der Abbruch, bevor die verschiedendsten Behandlungsoptionen diskutiert wurden. Doch das wäre tatsächlich wünschenswert. Es mag unterschiedliche Gründe geben, die gegen die eine oder andere Behandlungsoption sprechen, doch erleben wir es immer wieder, dass diese Möglichkeiten gar nicht erst erwogen wurden. Entsprechend geht die Aktivität zum Beispiel des Pregnancy Sickness Support („registered UK charity“) dahin, Schwangere, die sich mit Abtreibungsgedanken wegen einer Hyperemesis tragen dirket anzusprechen:

„If you are considering termination as an option please contact us first to explore all your treatment options first.“  (http://www.pregnancysicknesssupport.org.uk/help/treatments/termination) Der Aufruf ist sinngemäß so zu übersetzen: „Wenn sie darüber nachdenken, die Schwangerschaft [aufgrund der Hyperemesis] zu beenden, dann kontaktieren Sie bitte vorher uns um davor alle Behandlungsoptionen durchzugehen, die für Sie in Frage kommen.“

Auch eher unüblich für den klassischen Wissenschaftsbetrieb empfinde ich einen Artikel mit der Überschrift „Termination is not the treatment of choice for severe hyperemesis gravidarum“ – übersetzt: „Abtreibung ist nicht die Therapie der Wahl bei schwerer Hyperemesis“ (von Al-Ozairi et al. 2009), in dem der Einsatz eines der Reservemedikament beleuchtet wird. Es wird ersichtlich, dass ein Bewusstsein dafür wächst, dass die Abbrüche mit einer nicht optimalen Versorgung der Betroffenen zusammenhängen könnten und durch eine Verbesserung der Versorgung viel Leid erspart bliebe.

Das deckt sich mit meiner Beobachtung, die ich über die vergangen neuen Jahre beim Mitlesen der Beiträge im Forum www.hyperemesis.de gemacht habe: Nicht selten melden sich Frauen, die abgetrieben haben und schreiben, dass sie sich erst nach dem Abbruch wieder in der Lage sahen im Internet zu lesen und nun haben sie im Forum entdeckt, dass es medikamentöse Möglichkeiten weit über das ihnen verordnete hinaus gegeben hätte. Oft genug zeigen diese Beiträge das Entsetzen, die Verzweiflung, die Wut und den Schmerz der Betroffenen.

In der englischen Guideline wird gefordert, dass alle Therapiemöglichkeiten vor einem Abbruch ausgeschöpft wurden und das Therapieversagen dokumentiert wird (RCOG Green-top Guideline No. 69 des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, 15):

„All therapeutic measures should have been tried before offering termination of a wanted pregnancy. The Hyperemesis Education and Research (HER) Foundation in the USA reports that 10% of pregnancies complicated by HG end in termination in women who would not otherwise have chosen this. Pregnancy Sickness Support in the UK found that many of these women have not been offered the full range of treatments available and fewer than 10% had been offered steroids. Treatment options of antiemetics, corticosteroids, enteral and parenteral feeding, and correction of electrolyte or metabolic disturbances should be considered before deciding that the only option is termination of the pregnancy. A psychiatric opinion should also be sought, and the decision for termination needs to be multidisciplinary, with documentation of therapeutic failure if this is the reason for the termination.“

mit Verweis auf: Pregnancy Sickness Support, British Pregnancy Advisory Service. I could not survive another day. Improving treatment and tackling stigma: lessons from women’s experience of abortion for severe pregnancy sickness. [Par]: PSS; 2015.

Was man weiß:

Man findet in der Literatur einiges zum Thema Hyperemesis gravidarum und medizinischer Abbruch. Beispielhaft stelle ich hier die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Poursharif, Kost, MacGibbon, Fejzo, Romero, Goodwin vor. Diese wurden in einem Poster zusammengefasst.

Die amerikanische HER-Stiftung (Hyperemesis Education and Research) in den Jahren 2002-2003 über ihren Internetauftritt Frauen gebeten, verschiedene Fragen zu beantworten. So erhielt man von 505 Frauen, die von Hyperemesis betroffen Angaben zu den wegen Hyperemesis gravidarum durchgeführten Abbrüchen. Etwa ein Drittel der Frauen stammte aus den USA, der Rest aus 30 weiteren Ländern. Diese Umfrage zeigte folgendes Bild:

  • 24.7% der 505 Frauen berichten von mindestens einem Abbruch aufgrund der Hyperemesis gravidarum
  • 12.5% der 505 Frauen berichteten von wiederholten Abbrüchen aufgrund der Hyperemesis gravidarum (bis zu fünf Abtreibungen)
  • weitere 5.3 % erwogen einen Abbruch aufgrund der Hyperemesis gravidarum

Im Weiteren wurden die Angaben der Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben verglichen mit den Angaben der Frauen, die sich gegen einen Abbruch entschieden haben. Hier zeigten sich zum Teil große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.

  • Abbruchswahrscheinlichkeit ist abhängig von der medizinischen Versorgung
  • Auswirkungen einer ablehnenden Einstellung den Patientinnen gegenüber („Negative Health Provider Attitude“)

60.0 % der Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden hatten, fühlten sich während der Schwangerschaft schlecht versorgt – verglichen mit „nur“ 38.1 % derjenigen Frauen, die ihr Kind auf die Welt brachten. Die Angst vor einer zukünftigen Schwangerschaft ist in der Gruppe der Frauen mit Abbruch wesentlich höher (30.4%) als bei den Frauen ohne Abbruch (18.4%). Hingegen berichten Frauen, die die Schwangerschaft aufgrund der Hyperemesis abbrachen, deutlich seltener von familiären Dysfunktionen, Karrierenachteilen, eingeschränkter Aktivität und Essproblemen. Letzteres werten die Autoren so, dass daran offensichtlich wird, wie massiv die soziale und körperliche Last der Hyperemesis gravidarum ist, wenn diese durch einen Abbruch sich so deutlich verbessern lässt. Die Autoren halten diese Last für bislang deutlich unterschätzt und sehen gerade in der Verbesserung der medizinischen Versorgung eine Möglichkeit, die Situation der Betroffenen zu verbessern.

Verarbeitung und Indikation

Nun weiß man, dass Schwangerschaftsabbrüche, die aufgrund einer medizinischen Indikation erfolgt sind zu den Abbrüchen gehören, die für die betroffenen Frauen häufig schwerer zu verarbeiten sind. Auch wenn bei Hyperemesis gravidarum der Abbruch häufig nicht auf Basis einer medizinische Indikation erfolgt – was unter anderem dann der Fall ist, wenn der behandelnde Arzt davon überzeugt ist, dass die Frau unbewusst die Schwangerschaft und/oder das Kind ablehnt und nur deswegen an der Hyperemesis gravidarum leidet – sondern formal eine soziale Indikation genannt wird, so handeltes sich doch im Erleben der Betroffenen um eine der medizinischen Indikation vergleichbaren Situation. Ich weiß auch um Frauen, die den Abbruch gut in ihr Leben integriert haben und friedlich darauf zurückblicken können.

Blickwinkel, der helfen kann

Im Moment der Entscheidung ist es eine Entscheidung, die ohne Alternative erscheint. Es ist eine Entscheidung für das eigene Leben, manchmal ist es eine Entscheidung für die Kinder, die bereits geboren sind, manchmal ist es ist eine Entscheidung für die Partnerschaft oder die berufliche Zukunft. Eine Betroffene hatte im hyperemesis.de-Forum vor einigen Jahren folgenden Eintrag geschrieben und mir erlaubt, diesen hier wiederzugeben:

„Eure Worte haben mich sehr berührt. Erst jetzt merke ich, wie allein ich mit dieser Entscheidung dagestanden habe. Tatsächlich kann man wohl nicht Betroffenen kaum erklären, dass es nicht mangelnde Lust, Liebe, Geld oder weiß der Geier was ist, was einen zu diesem Entschluss bewegt hat. Es ist Sorge und nackte Angst. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie an Abtreibung gedacht und plötzlich sieht man, da ist ein Schicksal, das einen auffressen will. Das pack ich nicht. Auch wenn ich alles andere packe. […]Dieses Forum ist ein Segen. Ich war so zuversichtlich. Meine zweite Schwangerschaft lief ja mit Medikamenten ziemlich gut. Diese fing ab Befruchtung schon mit Übelkeit und Schwindel an. Welchen Rat können einem Freunde geben? Die einen sagen: drei Kinder sind toll! (ja, aber man muss es ja austragen) oder sie sagen: puh, drei Kinder, ganz schön viel Arbeit! (Arbeit? Arbeit ist toll, wenn man den Kopf hochbekommt, um es machen zu können. Jeder Tag ist ein Segen, an dem man morgens stark und gesund aufwachen darf) – aber was hier abläuft, was ihr erzählt, das schweigt die Welt tot. So viele Frauen leiden darunter, keine Kinder bekommen zu können. Man forscht und macht und tut. Aber dass es Frauen gibt, die easy schwanger werden (und nach der Geburt auch alles stemmen) und die die Schwangerschaft fast umbringt, das ist nach wie vor Tabu. In der Beratungsstelle der Diakonie, die ich aufzusuchen hatte, hat mich die Dame mit lapidaren Worten bedacht, die unerwartet gut getan haben. Sie meinte: ja, manchmal geht etwas einfach nicht, und das ist sehr schade. Ja, ich bin traurig. Aber ich glaube beide Wege, sich durch diese Krankheit zu quälen oder Abschied zu nehmen, werden mit Liebe entschieden. Ich danke euch sehr und wünsche Kraft und Zuversicht.“

Dokumente der Trauer und der Verzweiflung

IM MEMORIAM ist eine virtuelle Gedenktafel. Hier finden Müttern und Vätern, die aufgrund der Hyperemesis gravidarum ihr ungeborenes Kind verloren haben oder aber die sich angesichts der Hyperemesis gravidarum gegen eine Fortführung der Schwangerschaft entschieden haben, Worte für ihren Schmerz. Trauer und Schuldgefühle werden formuliert:

„So sorry that HG was stronger than mommy & daddy. Forever in our hearts.“

„I’m so sorry I couldn’t do it for you.“

“ My heart aches of the „what-if“s, I’m so torn, I’m so sorry baby“

„Mommy is so sorry she was too sick to care for you. Miss you everyday.“

„I am so sorry that I could not protect you. Forgive me. I’ve Failed.“

„I think about you often and who you would have been.“

„Please forgive me, I will always love you.“

Link zur Homepage der HER-Foundation, wo das „in-memoriam“ zu finden ist.

Literatur

http://www.helpher.org/PressCenter/presskit/poster-HG-voluntary-termination.pdf

Poursharif, Borzouyeh; Korst, Lisa M.; MacGibbon, Kimber W.; Fejzo, Marlena S.; Romero, Roberto; Goodwin, T. Murphy (2007): Elective pregnancy termination in a large cohort of women with hyperemesis gravidarum. In: Contraception 76 (6), S. 451–455.

Al-Ozairi, E.; Waugh, J. J. S.; Taylor, R. (2009): Termination is not the treatment of choice for severe hyperemesis gravidarum: Successful management using prednisolone. In: Obstetric Medicine 2 (1), S. 34–37. Online verfügbar unter http://www.helpher.org/downloads/Taylor-research-prednisolone-treatment-2009.pdf

 

< <Das ist meine Überzeugung. Aus Respekt gegenüber den Frauen, die diesen Weg gegangen sind, verwende ich den Begriff „Abbruch“ und nicht den Begriff „Abtreibung“. Es ist ein sehr emotionales Thema mit entsprechenden schnell einhergehenden Werungen und Abwertungen der betreffenden Personen. Das wird Frauen mit Abbruch aufgrund von Hyperemesis gravidarum nicht gerecht. Hier geht es nicht um eine (gesellschafts-)politische Haltung, sondern darum, dass Frauen in großer körperlicher Not ohne ausreichende medizinische Unterstützung keine andere Wahl sahen, zum Beispiel Schwangere, die bei verschiedensten Ärzten um eine effektivere Behandlung bettelten und dieser erst zur Vorbereitung des Abbruchs erhielten.


 

Dieser Text stammt von meiner früheren Homepage. Inzwischen gibt es empirische Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Schwangeschaftsabbruch und Qualität der Versorung. Dies füge ich demnächst ein.

letzte Aktualisierung: 15. Mai 2023